Abstracts von Aufsätzen zu Stoelzel

 

 

 

Christian Ahrens,  Ein ‚Weihnachtsoratorium’ von Gottfried Heinrich Stölzel

 

Christian Ahrens,  Vom accompagnirten und vollstimmigen Recitativ. Mehrstimmige Rezitative in G. H. Stoelzels Weihnachtsoratorium (1728)

 

Christian Ahrens, Verrillons und Carillons in der deutschen Musik des frühen 18. Jahrhunderts

 

Christian Ahrens,  Der Serpent in Kantaten des frühen 18. Jahrhunderts aus Mitteldeutschland

 

 

 

Christian Ahrens, Ein ‚Weihnachtsoratorium’ von Gottfried Heinrich Stölzel (1690–1749), in: Sondershäuser Beiträge Püstrich, Bd. 8, Sonderhausen 2004 (im Druck)

In seinem Nekrolog auf Gottfried Heinrich Stoelzel teilte Lorenz Mizler 1754 mit, der Komponist habe neben acht Doppeljahrgängen Kantaten „ohngefehr vierzehn Paßionen und Weihnachts Oratorien“ geschrieben. [1] Da bis vor kurzem kein authentisches Weihnachtsoratorium aufgefunden werden konnte, behalf man sich gelegentlich mit der Zusammenstellung von Kantaten, die für die Weihnachtsfeiertage und die anschließenden Sonntage bis Epiphanias bestimmt, im erhaltenen Aufführungsmaterial allerdings nicht explizit als zusammengehörig gekennzeichnet sind. 1999 erschien die Einspielung eines „fiktiven Weihnachtsoratoriums“ von Gottfried Heinrich Stölzel durch Ludger Rémy.[2] Er faßte die einschlägigen Kantaten, die für die Sonn- und Feiertage zwischen dem 25. Dezember 1736 und dem 6. Januar 1737 in Sondershausen bestimmt waren[3] zusammen.

Merkwürdiger Weise blieb bisher die Tatsache unberücksichtigt, daß unter den in Gotha[4] vorhandenen originalen Textbüchern zu Stölzel-Kantaten einige mehr als einen Text enthalten: überwiegend zwei für die beiden Kantaten eines Sonntags zur Lesung und zur Epistel, gelegentlich aber auch Texte für vier bis sechs Kantaten, die für Gottesdienste an mehreren Sonntagen bestimmt waren. Es handelt sich mit einer Ausnahme um den Kantatenjahrgang 1728/29, der allerdings unvollständig überliefert ist.[5]

Unter den Textbüchern findet sich eines, dessen Titel folgendermaßen lautet:[6]

 

Texte

zur

Weyhnachts=

Kirchen=Music,

in

Hochfürstl. Schloß=Capelle

zum Friedenstein

auf die

Drey

Weyhnacht=Feyer=

Tags=

Episteln und Evangelia

gerichtet

von

Gottfr. Heinr. Stöltzeln,

F.S. Capellmeistern.

Gotha, druckts Joh. Andreas Reyher,

F.S. Hof=Buchdr. 1728.

 

Es scheint daher berechtigt, von einem zwar kurzen und in seiner Struktur eigentümlichen, gleichwohl authentischen ‚Weihnachts-Oratorium’ G.H. Stölzels auszugehen.[7]

Jeweils zwei Kantaten der Weihnachts-Musik wurden in einem Gottesdienst aufgeführt, die eine „zur Epistel“ bzw. „zur Lectio“, die andere „zum Evangelio“.[8]

 

Am I. Christtage/Zur Epistel

Das Volck so im Finstern wandelt

Mus. A15:36/HS M1 VC

 

Am I. Christtage/Zum Evangelio

Euch ist heute der Heyland gebohren

Mus. A15:37/HS M1 VD

 

Am II. Weyhnachts=Feyertage/Zur Lection

Siehe, ich sehe den Himmel offen

Mus. A15:42/HS M1 VIC

 

Am II. Weyhnachts=Feyertage/Zum Evangelio

Denen zu Zion wird ein Erlöser kommen

Mus. A15:43/HS M1 VID

 

Am III. Weyhnachts=Feyertage/Zur Lection

Wenn dein Wort offenbahr wird

Mus. A15:48/HS M1 VIIC

 

Am III. Weyhnachts=Feyertage/Zum Evangelium

Herr, du weissest alle Dinge

Mus. A15:49/HS M1 VIID

 

In Gotha haben sich lediglich die Texte erhalten, die Noten des Weihnachtsoratoriums liegen im Archiv des Schlossmuseums Sonderhausen. Ob die sechs Kantaten auch dort als Zyklus aufgeführt wurden, ist bisher völlig offen, entsprechende Hinweise in den Noten finden sich nicht. Diese kamen offenbar erst 1732/33 nach Sondershausen (sie gehören nach der Zählung Fritz Hennenbergs zum Jahrgang IV), so daß eine Aufführung dort frühestens zu Weihnachten 1732 erfolgt sein kann.

Daß die sechs Kantaten der Weihnachts-Musik von 1728 zwar theologisch-textlich eine Einheit bilden und in Gotha gemeinsam aufgeführt wurden bzw. für eine gemeinsame Aufführung bestimmt waren, daß ihnen aber die Erzählung der Weihnachtsgeschichte als entscheidendes Element der Verbindung fehlt, hat seinen Grund augenscheinlich in einer Besonderheit der oratorischen Aufführungspraxis in Gotha.

Die Gattung der Kantatenreihen zu hohen Festtagen, die Walter Blankenburg für die Gothaer Passionsmusik nachgewiesen und als lokale Besonderheit, ohne Korrespondenz in anderen Regionen Deutschlands, bezeichnete, hat ein Pendant in der hier vorgestellten Kantatenreihe G. H. Stölzels zu Weihnachten 1728, die man mit einiger Berechtigung als ‚Weihnachtsoratorium’ bezeichnen kann. Im Hinblick darauf, daß gerade der Kantatenjahrgang 1728/29 später für Sondershausen kopiert wurde, wäre es interessant zu wissen, ob wir von einer ähnlichen Tradition der „Kantatenreihen“ in dieser Residenz ausgehen müssen. Dann nämlich handelte sich nicht um eine lokale – Gothaer – sondern um eine regionale – Thüringer – Besonderheit.

 



[1]    Lorenz Mizler, Neu eröffnete Musikalische Bibliothek, Bd. 4, Leipzig 1754/Reprint Hilversum 1966, S. 143–157, hier S. 152.

[2]    Gottfried Heinrich Stoelzel, Weihnachtsoratorium, Cpo 999 668-2 (Kantaten 1–5) und 999 735-2 (Kantaten 6–10).

[3]    Fritz Hennenberg, Das Kantatenschaffen von Gottfried Heinrich Stölzel. (Beiträge zur musikwissenschaftlichen Forschung in der DDR, Bd. 8). Leipzig 1976.; der Autor rechnet sie den Kantatenjahrgängen VIII und IX zu.

[4]    Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha/Forschungsbibliothek Gotha, Sign. Cant spir. 891. Ich danke der Bibliothek und namentlich Frau Annette Gerlach für die Übermittlung von Kopien und die Genehmigung, das Material auszuwerten.

[5]    In dem Konvolut (hier Nr. 891aa) findet sich der Text zu wenigstens einer Kantate, die Fritz Hennenberg (Das Kantatenschaffen von Gottfried Heinrich Stölzel) dem Jahrgang 1720/21 zuordnet.

[6]    Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha/Forschungsbibliothek Gotha, Sign. Cant spir. 891ll.

[7]    Walter Blankenburg (Die Aufführungen von Passionen in der Schloßkapelle zu Gotha,  in: Walter Blankenburg. Kirche und Musik. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der gottesdienstlichen Musik, Göttingen 1979, S. 240–251, hier S. 247), der sich auf die Passionsmusik und Kantatenreihen für die Passionszeit konzentrierte, führt insgesamt sieben Kantatenreihen an (ausnahmslos ist die Musik verloren, nur die Textbücher blieben erhalten): in vier Fällen läßt die Formulierung im Titel erkennen, daß es sich um die Verbindung einzelner Kantaten zu einem Zyklus handelt.

[8]    Angeführt sind die originalen Bezeichnungen, die uneinheitlich verwendet werden. Von den beiden Signaturen gibt jeweils die erste die aktuelle, die nach dem Schrägstrich folgende zweit die alte Signatur an, die sich u.a. auch bei F. Hennenberg findet.

 

 

 

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Christian Ahrens, Vom accompagnirten und vollstimmigen Recitativ. Mehrstimmige Rezitative in G. H. Stoelzels Weihnachtsoratorium (1728), in: Beiträge zur musikalischen Quellenforschung, Bd. 6, Bad Köstritz 2004 (im Druck)

Gottfried Heinrich Stoelzels Weihnachtsoratorium[1] von 1728 hat eine ganz eigene Prägung. Zum einen fehlt ihm die durchgehende Weihnachtsgeschichte als einheitsstiftendes Element, zum anderen steht im Zentrum nicht nur das Geschehen der Heiligen Nacht im engeren Sinne – textliche Grundlage bilden neben Passagen aus dem Lukas- und dem Johannesevangelium sowie der Apostelgeschichte auch Dicta des Alten Testaments. Und schließlich waren die Kantaten ausschließlich für die drei Weihnachtsfeiertage bestimmt, wobei sie jeweils paarweise zur Epistel und zum Evangelium ausgeführt wurden.

Wie der in Gotha erhaltene Textdruck zu diesem Weihnachtsoratorium belegt, hat G. H. Stoelzel eigenhändig die Texte verfaßt. Man kann mithin davon ausgehen, daß er die Gesamtstruktur der einzelnen Kantaten planvoll angelegt und die Übereinstimmungen zwischen textlicher und musikalischer Faktur, über die im folgenden gesprochen werden soll, bewußt herbeigeführt hat.

Die nachstehende Tabelle enthält eine Übersicht zum Formbau der sechs Kantaten, deren Zählung nach den drei Weihnachtsfeiertagen und der Ordnung des Gottesdienstes erfolgt.

Um die Rezitativ-Partien, in denen die Solostimmen sukzessive einsetzen von jenen abzugrenzen, in denen es zu einer echten Mehrstimmigkeit kommt, werden für die letzteren die Zusätze „a 2“ bzw. „a 4“ verwendet, die sich im übrigen auch in den Handschriften finden. Gemeint ist mit dieser Bezeichnung die Gleichzeitigkeit von zwei oder vier Stimmen im Rezitativ; Partien a 3 konnten bisher in den Werken G. H. Stoelzels nicht nachgewiesen werden.

 

Übersichtstabelle

G. H. Stoelzel, Weihnachstoratorium

 

 

I.1

Das Volk, so im Finstern wandelt

Chor (Dictum)

Jes. 9,2

Rezitativ a 2 S/T

Duett S/T

Rezitativ A/B

Duett A/B

Rezitativ a 4 (Accomp.)

Choral

3 Trp+Pk, 2 Obo­en, Streicher, Bc

I.2

Euch ist heute der Heilland geboren

Chor (Dictum)

Luk. 2,11

Rezitativ a 4

Arie A

Rezitativ A/T/B

Arie B

Text vorhanden, Musik fehlt!

Choral

3 Trp+Pk, 2 Obo­en, Streicher

II.1

Siehe, ich sehe den Himmel offen

Chor (Dictum)

Apost. 7,55

Rezitativ S/A/T/B

Arie S

 

Rezitativ T/B

Duett T/B

Rezitativ a 4  (Accomp.

Choral

[2 Oboen][2] Strei­cher, Bc

II.2

Denen zu Zion wird eine Erlöser kommen

Chor (Dictum)

Jes. 59,20

Rezitativ S/A/T/B

Duett T/B

Rezitativ S/A

Arie S

Rezitativ a 4 (Accomp.)

Choral

2 Hörner, [2 Obo­en], Streicher, Bc

III.1

Wenn dein Wort offenbar wird

Chor (Dictum)

Psalm 119,130

Rezitativ S/A/T/B

Duett T/B

Rezitativ S/A

Duett S/A

Rezitativ a 4 (Accomp.)

Choral

[2 Oboen] Strei­cher, Bc

III.2

Herr! Du weißest alle Dinge

Chor (Dictum)

Joh. 21,14

 

Arie A

Rezitativ S/A/T/B

Arie S

Rezitativ a 2 T/B (Accomp.)

Choral

[2 Oboen] Strei­cher, Bc



                                                                       

 I. Zyklusbildende Elemente

Alle Kantaten haben sieben Sätze mit identischer Abfolge; dazwischen werden abwechselnd Rezitative und Arien resp. Duette gereiht. Freilich gibt es zwei Ausnahmen: die Kantaten I.2 (Euch ist heute der Heiland geboren) und III.2. (Herr! Du weissest alle Dinge). Bei letzterer folgt auf den Kopfsatz unmittelbar eine Arie, ohne daß ihr ein Rezitativ vorangeht. Der Grund für diese Abweichung ist nicht erkennbar, er dürfte in theologischen und/oder textlichen Besonderheiten liegen.

Für die Kantate I.2 (Euch ist heute der Heiland geboren) ist der Sachverhalt hingegen klar – das Textbuch enthält nämlich an der Stelle einen entsprechenden Text, der in der vorliegenden Fassung der Kantate nicht vertont ist. Der Grund dafür ist unbekannt.

Ein weiteres zyklisches Element findet sich in der Zahl und Plazierung der Arien resp. Duette. Insgesamt sind in den sechs Kantaten 12 derartige Satztypen vertreten, beide finden sich je sechsmal. In den Kantaten I.1 und III.1 schreibt G. H. Stoelzel ausschließlich Duette und keine Arien, in den Nummern I.2. und III.2 hingegen nur Arien; die Kantaten II.1 und II.2 haben jeweils ein Duett und eine Arie (in gleichsam komplementärer Reihenfolge, vgl. die Tabelle oben). Das ergibt ein erstaunliches Maß an Symmetrie:

 

Und schließlich ist auf eine besondere instrumentationstechnische bzw. klangliche Strukturierung hinzuweisen: die Besetzung wird nach den beiden Eingangskantaten reduziert.

II. Struktur und Funktion der mehrstimmigen Rezitative

Bestimmendes Merkmal des Weihnachtsoratoriums ist eine Eigenheit von G. H. Stoelzels Personalstil, die in Deutschland in der geistlichen Musik des Barock nur wenig Parallelen hat: die Komposition mehrstimmiger Rezitative. Grundsätzlich nehmen a 2- oder a 4-Partien zumeist nicht die ganze Länge eines Rezitativs ein.[3] In weitaus den meisten Fällen stehen sie am Ende des Satzes und dienen quasi als Vorbereitung auf und Überleitung zum nachfolgenden Satz.

 

III. Die Verbindung von Rezitativ und nachfolgendem Duett

Ob sich in den Kantaten G. H. Stoelzels generell mehr Duette finden als in den Kantaten anderer Komponisten seiner Zeit, bedarf noch der Klärung. Das Weihnachtsoratorium jedenfalls enthält überraschend viele derartige Sätze, obschon die betreffende Dichtung nicht dialogisch angelegt ist und von daher eine Vertonung als Arie möglich gewesen wäre. Mehrfach verbindet G. H. Stoelzel Rezitativ und Duett zu einer Einheit: entweder durch Einführung identischer Passagen (a 2 oder a 4 gesungen), oder dadurch, daß er die beiden Solisten des nachfolgenden Duetts als letzte im vorangehenden Rezitativ singen läßt.

Die Zielsetzung G. H. Stoelzels bei der Verwendung mehrstimmiger Passagen in Rezitativen läßt sich folgendermaßen zusammenfassen:

1. mehrstimmige Abschnitte sind grundsätzlich homorhythmisch strukturiert, so daß die Textverständlichkeit gewährleistet bleibt;

2. entsprechende Abschnitte erstrecken sich selten über den gesamten Satz sondern machen zumeist lediglich einen Teil eines Rezitativs aus und sind in einen ‚normalen’ Rezitativkontext eingebettet.

3. in der Regel stehen diese (überwiegend relativ kurzen) Abschnitte am Satzende, gelegentlich auch am Satzanfang;

4. mehrstimmige Abschnitte gibt es sowohl in Secco- als auch in Accompagnato-Re­zitativen;

5. dieser Rezitativtypus dient einer Gesamtdramaturgie und steht zumeist an Stellen, an denen die Aussage des Textes einem Höhepunkt zustrebt, die inhaltliche Kernaussage betont oder aber der nachfolgende (musikalische) Satz in seinem Inhalt und seiner Wirkung verstärkt werden soll;

6. dieser Rezitativtypus wird gezielt eingesetzt zur Überleitung in den jeweils folgenden Satz, das ist meist ein Duett oder ein Choral, seltener eine Arie.

7. die musikalische Wirkung der zwei- oder vierstimmigen Rezitativ-Abschnitte ist nicht eigentlich rezitativisch sondern arios, ja bisweilen choralartig und hymnisch, jedenfalls in hohem Maße ausdruckssteigernd.

 Im geistlichen Vokalwerk keines anderen Komponisten der Barockzeit finden sich derartig viele Rezitative mit mehrstimmigen Abschnitten. Kantaten und Oratorien J. S. Bachs etwa enthalten insgesamt 28 derartige Sätze, von denen jedoch immerhin 17 entweder durchgehend eine andere Satzstruktur aufweisen – z. B. die eines Duetts, eines Chors oder Chorals –, oder aber zumindest in ihren a 2- oder a 4-Abschnitten, wobei diese sich deutlich vom Rezitativkontext abheben. Eines der wenigen, mit dem hier vorgestellten vergleichbaren Beispiele findet sich im Weihnachtsoratorium, BWV 248 (Satz Nr. LXIII, Was will der Hölle Schrecken nun).

Wie ungewöhnlich die Konzeption, Rezitative bzw. Teile davon mehrstimmig vortragen zu lassen, Ende des 18. Jahrhunderts war, läßt sich z.B. den Angaben Ernst Ludwig Gerber im Artikel Stoelzel seines Lexikons[4] entnehmen. Angeblich soll der Komponist kurz vor seinem Tod selbst als Ursache einer „Schwachheit im Haupte“ „einen seiner letztern Kirchenjahrgänge angegeben [haben]. In welchem nicht allein alle Chöre, sondern auch durch alle Stücke, die Recitative und Arien von allen vier Stimmen zugleich, gesungen werden.“

Die einzigartige Bedeutung des mehrstimmigen Rezitativtypus im Schaffen G. H. Stoelzels liegt auf der Ebene der musikalischen Dramaturgie und der Textinterpretation.



[1] Inzwischen liegt eine erste Teileinspielung vor: Gottfried Heinrich Stoelzel, Weihnachtsoratorium (1728). Epistel-Kantaten; Kammerchor der Marienkantorei Lemgo, Handel’s Company, Leitung: Rainer Johannes Homburg (Musikproduktion Dabringhaus und Grimm, MDG 605 1232-2, Detmold 2003).

[2] Auf den Titelblättern der Kantaten des 2. und 3. Weihnachtsfeiertages sind die Oboen nicht eigens aufgeführt. Es haben sich jedoch entsprechende Stimmen erhalten, die vermutlich vom selben Schreiber wie die übrigen Stimmen stammen und mithin als authentisch gelten müssen.

[3] In der Neujahrs-Kantate Sagt Dank alle Zeit (1730) steht als Satz Nr. 6 ein Accompagnato-Rezitativ, das durchgehend a 4 gestaltet ist und musikalisch wie inhaltlich zum nachfolgenden Schlußchoral überleitet.

[4] Ernst Ludwig Gerber, Artikel Stoelzel, in: Historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler, Leipzig 1790/Reprint Graz 1977, Sp. 585–593, hier Sp. 593. Gerber übernahm die wesentlichen Sach-Informationen von Johann Adam Hiller (Lebensbeschreibungen berühmter Musikgelehrten und Tonkünstler neuerer Zeit, Leipzig 1784/Reprint Leipzig 1975, S. 256–266), der jedoch nicht den geringsten Hinweis auf die Mehrstimmigkeit in Rezitativen oder gar eine körperliche und geistige Schwäche als Folge oder als Ursache für derartige Vertonungen gab.

 

 

 

 

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Christian Ahrens, Verrillons und Carillons in der deutschen Musik des frühen 18. Jahrhunderts, in: Archiv für Musikwissenschaft 60 (2003), S. 31–39

 

Für einen Satz (Nr. 15 Aria / Duetto Sopran und Baß Ich spiele stets mit Anmuthsblicken) der weltlichen Kantate Volles Vergnügen, ausnehmende Freüde[1] von Gottfried Heinrich Stoelzel (1690–1749) existiert eine Stimme, die mit „Verrillon“ (von frz. la verre, das Glas) bezeichnet ist. Entstanden ist die Kantate anläßlich des Geburtstages der Gemahlin von Fürst Günther von Schwarzburg-Sondershausen am 12. April 1732. Die Verrillon-Stimme enthält durchgehend kleine Notenwerte, vornehmlich Achtel und Sechzehntel, und ist überwiegend zweistimmig in Terzen geführt. Die Verwendung entspricht weitgehend den Angaben von Johann Georg Walther[2] von 1732: das Glasspiel, das gelegentlich mit der Sopranstimme unisono geführt wird, konzertiert mit den beiden Violinen und Oboen, tritt aber gelegentlich auch solistisch hervor.

Die Quellenlage zum Gebrauch von Glasspielen in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist widersprüchlich. Zum einen erwähnen sowohl Johann Gottfried Walther als auch Johann Philipp Eisel (1738) entsprechende Instrumente, so daß man annehmen muß, daß sie zu jener Zeit in Mitteldeutschland in Gebrauch waren. Allerdings handelte es sich um sehr einfache Instrumente – eine bestimmte Anzahl von Bier- oder Weingläsern, die mit zwei Stöcken angeschlagen wurden –, deren Leistungsfähigkeit nicht eben groß gewesen sein kann. Zum anderen berichtet Ernst Ludwig Gerber in seinem Lexikon, ein gewisser Carl Ludwig Weißflock habe 1731 ein „Klavier von auserlesenen Gläsern durch drey Octaven [erfunden und verfertigt], worauf er, ohne irgend eine Dämpfung, nach Gefallen piano und forte ausdrücken konnte.“[3]

Da die Verrillon-Partie in der Stoelzel-Kantate ungeachtet ihres vergleichsweise geringen Tonumfanges und -vorrates (insgesamt 8 Töne) spieltechnisch anspruchsvoll ist, kann sie kaum auf jenem einfachen Glasspiel mit einzeln und lose stehenden Gläsern ausgeführt worden sein, von denen J.G. Walther und J.Ph. Eisel berichten.

Zeugnisse über die Nutzung von Glasspielen in Deutschland vor 1750 sind rar. Lediglich aus Hamburg liegen eindeutige Belege (Konzertankündigungen in Tagezeitungen) aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor. Die Aussage in einer Anzeige von 1724, es handle sich um ein „neuerfundenes“ Instrument, läßt immerhin den Schluß zu, daß das Glasspiel in Hamburg damals noch weitgehend unbekannt war.

Ebenfalls durch Zeitungsanzeigen ist belegt, daß man um 1710 in Norddeutschland separate, transportable Glockenspiele (Carillons) für Musikaufführungen nutzte. Allerdings legen auch hier die Formulierungen nahe, daß das fragliche Instrument noch keineswegs allgemein bekannt war, wenn man es auch nicht gerade als eine Neuerfindung ansah.

1733 wurde in einem erstaunlich umfänglichen Hamburger Zeitungsartikel auf ein vervollkommnetes Glockenspiel des Organisten zu St. Petri und Johannis in Hamburg, Johann Jacob Hencken (Heneken) aufmerksam gemacht.[4] Einer genaueren Beschreibung des Instrumentes von 1756 ist zu entnehmen, daß das Modell mit einer Tastatur ausgestattet und das Äußere dieses Carillons aufwendig im Stile der damaligen Zeit lackiert und verziert war – ein Beweis dafür, daß es nicht nur musikalisch genutzt wurde, sondern zugleich als kostbares Möbelstück diente.

Im Nachlaß des Komponisten J. Mattheson[5] fand sich eine eigenhändig geschriebene Carillon-Stimme zur Brockespassion von 1718; die Stimme wird auf ca. 1736 datiert. Darüber hinaus existiert im Nachlaß eine Abbildung eines solchen Instrumentes, das der Zittauer Musikdirektor Johann Krieger erfunden haben soll und für das die genannte Carillon-Stimme gedacht gewesen zu sein scheint. Es handelte sich um ein Modell, das sowohl mechanisch – über ein Uhrwerk mit Walze – betrieben als auch direkt über eine Tastatur gespielt werden konnte. Die Glocken waren horizontal angeordnet. Dies und ihre Form machen die Parallelen zum Verrillon, aus dem später die Glasharmonika entwickelt wurde, offensichtlich.

Zwar liegen aus Hamburg bisher konkretere Informationen über den musikalischen Einsatz von Verrillons vor, doch lassen die Mitteilungen von J.G. Walther und J.Ph. Eisel sowie die Verrillon-Stimme in der Stoelzel-Kantate erkennen, daß Glasspiele zu jener Zeit auch in Mitteldeutschland verbreitet waren.


 


[1] Signatur Mus A15:4 /  HS M 13:I; Besetzung: 3 Trp [in D], Pk, 2 Hrn [in D], 2 Fl, 2 Blfl, 2 Ob, 2 Vl, Vla, Bc [Cembalo].

[2] Johann Gottfried Walther, Musikalisches Lexikon oder musikalische Bibliothek, Leipzig 1732 / Reprint Kassel etc. 1953, s.v. „Verrillon“.

[3] Ernst Ludwig Gerber, Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler [1790–1792], hrsg. von Othmar Wessely, Graz 1977, Teil 1, Spalte 791.

[4] HRC Nr. 22, 10.2.1733.

[5] Hans Joachim Marx, Unbekannte Kompositionen aus Matthesons Nachlaß, in: New Mattheson Studies, hrsg. von George J. Buehlow und Hans Joachim Marx, Cambridge etc. 1983, S. 213–255, hier S. 225.

 

 

 

 

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Christian Ahrens, Der Serpent in Kantaten des frühen 18. Jahrhunderts aus Mitteldeutschland, in: Zur Geschichte von Cornetto und Clarino. Symposium im Rahmen der 25. Tage Alter Musik in Herne 2000, München/Salzburg 2001, S. 65–75

 

Vier Kantaten[1] Gottfried Heinrich Stölzels (1690–1749) im Bestand des Schlossmuseums Sondershausen enthalten Stimmen für ein Instrument mit der Bezeichnung „Basso Serpentini“ (2mal) bzw. „Basso Serpendini“ (2mal) mitwirkt:

 

Seelig seyd ihr Armen (1. Sonntag n. Trinitatis 1736; Sign. Mus A 15:223/ Hs M 6:XLVD)

Wohlthun ist wie ein geseegneter Garten (4. Sonntag n. Trinitatis 1736; Sign. Mus a 15:241/Hs M 3:XLVIIIB)

Gott ist die Liebe (1. Sonntag n. Trinitatis 1737; Mus A 15:224/Hs M 6:XLVE)

Weil wir in der Hütten sind (4. Sonntag n. Trinitatis 1737; Mus A 15:242/Hs M 7:XLVIIIC)

 

Die Partien für Basso Serpentini sind ausnahmslos nicht transponierend im Baßschlüssel notiert, der Umfang reicht von H1 resp.B1 bis g, zahlreiche chromatische Zwischenstufen eingeschlossen. In allen Fällen ist der Basso Serpentini nicht auf dem Titelblatt erwähnt und in den jeweiligen Partituren nicht genannt.

Der Basso Serpentini findet in allen Sätzen mit Ausnahme der Rezitative Verwendung und wird in allen musikalischen Kontexten eingesetzt. Da viele Passagen sehr bewegt sind, muß das fragliche Instrument in dieser Hinsicht relativ leistungsfähig gewesen sein.

Verwendung und Stimmführung des Basso Serpentini seien am Beispiel der KantateWeil wir in der Hütten sind demonstriert.

In der Baß-Arie Nr. 5 (Ich will glauben, ich will hoffen) findet sich kein einziger Takt, in dem im Basso Serpentini nicht wenigstens ein Ton der großen Oktave erklingt, auch das B1 kommt relativ häufig vor. Demgegenüber ist die Organo-Partie fast durchgehend gleichsam all ottava alta geführt: von 94 Takten verlaufen nur sieben ausschließlich in der tiefsten Oktave. Der Basso Serpentini fungiert mithin gleichsam als 16’-Instruments. Konsequenter Weise läßt der Komponist ihn in Bassettchensätzen pausieren und setzt ihn erst wieder (in der bereits zuvor praktizierten Funktion als 16’-Instrument) ein, wenn die Notierung in den Baßschlüssel wechselt. Diese Verwendung des Basso Serpentini entspricht exakt jenen Anweisungen, die Johann David Heinichen in seiner Generalbaßschule mitteilt.[2]

Eine besonders prägnante Stelle gibt es am Schluß des Eingangssatzes dieser Kantate. Nach Ende eines Basettchensatzes und dem Wiedereintritt des Basses, setzt der Basso Serpentini für die letzten 8 Takte erneut ein. Der Übergang vom Basettchen-Klang (zweigestrichene, dann eingestrichene Oktave) in die Große- bzw. Kontra-Oktave ist so abrupt wie eindrucksvoll und offenbart eine subtile Klangvorstellung.

Es liegt nahe, die Bezeichnung „Basso Serpentini“ als Äquivalent für den Serpent zu interpretieren. Dem steht freilich entgegen, daß bisher Quellen fehlen, die dessen Verwendung in Deutschland und namentlich der Kirchenmusik zu jener Zeit belegen. In keiner der zeitgenössischen Theoretikerschriften finden sich entsprechende Hinweise. Nach Auffassung verschiedener Autoren kam der Serpent erst um 1750 nach Deutschland und fand zunächst Aufnahme in der Militärmusik.[3]

Bereits 1960 hatte Klaus Wolfgang Niemöller eine Bestandsaufnahme des Personals der Kölner Domkapelle vorgelegt:[4] mindestens seit 1711 und bis nach 1760 sind dort Serpentspieler nachweisbar, das Instrument galt als geradezu unentbehrlich. Demnach war der Serpent in Deutschland tatsächlich seit Anfang des 18. Jahrhunderts in Gebrauch, und zwar entgegen anders lautenden Behauptungen vornehmlich in der Kirchenmusik. Ohne Zweifel liegt in den Stoelzel-Kantaten ein weiterer Beleg für die Verwendung des Serpent in Deutschland vor.

Anders als die Kölner Quellen liefert nun das Sondershäuser Material erstmals konkrete Anhaltspunkte für die Art und Weise, in der man den Serpent in der Kirchenmusik nutzte. Sicher ist demnach, daß der Serpent vor 1750 in Sondershausen gelegentlich in Kantaten eingesetzt wurde, wobei er durchgehend gleichsam als 16’-Instrument diente. Die Notierung des Serpent in den Stölzel-Kantaten spiegelt das Bemühen wider, ein eigentlich der 8’-Lage zugehöriges Instrument als 16’-Fundament einzusetzen. Dazu fand ein Bearbeitungsprozeß statt, in dessen Verlauf die Melodielinie gegenüber der der übrigen Bc-Instrumente und des Chorbasses verändert und dabei gezielt den speziellen Möglichkeiten des Basso Serpentini angepaßt wurde. Daß sich dies nicht zuletzt auf den Gesamtklang des Orchesters auswirkte, bedarf keiner Erläuterung.

Ob und inwieweit in anderen Hofkapellen Mitteldeutschlands bzw. Formationen der Rats- oder Stadtpfeifer vor 1750 ebenfalls Serpente und versierte Spieler vorhanden waren und in der Kirchenmusik zum Einsatz kamen, muß weiteren Nachforschungen vorbehalten bleiben.


 


[1]     Ursprünglich waren nur drei Kantaten bekannt, eine neu aufgefundene (Nr. 3 in der Auflistung) wurde im Abstract berücksichtigt.

[2]     Johann David Heinichen, Der Generalbaß in der Komposition, Dresden 1728/Reprint Hildesheim etc. 1969, S. 515f.

[3]     Lorenz Welcker, Zink, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Ausgabe, Sachteil, Bd. 9, Kassel etc. und Stuttgart etc. 1998, Sp. 2383–2390, hier Sp. 2387; vgl. auch Reginald Morley-Pegge und Philip Bate, Serpent, in: The New Grove Dictionary of Musical Instruments, London/New York 1984, Bd. 3, S. 347–352, hier S. 350f.

[4]     Klaus Wolfgang Niemöller, Kirchenmusik und reichsstädtische Musikpflege im Köln des 18. Jahrhunderts (= Beiträge zur Rheinischen Musikgeschichte, Heft 39) Köln 1960, S. 9–70 passim.

 

 

 

 

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